2. Wie profitieren Kinder von und bei der Familienarbeit?

Schauen wir uns einmal Jonas und seine Schwester Karla in drei Beispielen an:

 

Erstes Beispiel:

Jonas und Karla beziehen die Betten frisch: beide haben sie die Bezüge der Bettdecken abgezogen. Was kann man denn damit machen? Reinkrabbeln! „Guck mal – ich bin ein Gespenst“. Das kann der Bruder auch. Schon entsteht eine kichernde Gespensterrauferei! Als die „ausgelebt“ ist und die Arbeit weitergehen soll, entdecken sie die freien Matratzen: die laden ein zu ausgiebigen Purzelbaumübungen. Rückwärts, vorwärts…Dann schließlich sollen die frischen Bezüge über die Decken: die beiden schaffen das mit ihren kurzen Armen nicht so gut wie ein Erwachsener. Da müssen sie zusammen arbeiten – dann ist es zu bewältigen. Aber ganz einfach geht es nicht. Schließlich aber ist alles geschafft und die Mutter wird gerufen: alles sieht wunderbar aus. Drei Menschen sind stolz!


Zweites Beispiel:

Vater und Jonas stehen zusammen in der Küche: für die Feier am Wochenende bereiten sie Kartoffelsalat vor. Sie müssen eine große Menge Kartoffeln schälen. Konzentriert ist Jonas über die Kartoffeln gebeugt und lässt immer wieder zufrieden eine sauber geschälte Kartoffel ins Wasser platschen. Vater und Sohn plaudern bei der Arbeit. Jonas erzählt von einer Mitschülerin und wie diese von der Lehrerin behandelt wird. Der Vater fragt nach. Jonas bohrt energisch ein „Auge“ aus der Kartoffel, die er gerade bearbeitet: auch er selbst hat enorme Probleme mit der Lehrerin. „Aha“, denkt der Vater, „das ist es, was Jonas in letzter Zeit manchmal so bedrückt hat erscheinen lassen!“ Ist die Lehrerin ungerecht oder hat sich Jonas selbst falsch verhalten? Gemeinsam überlegen sie, wie Jonas mit der schwierigen Situation umgehen kann. Als sie dafür eine Idee haben, sind alle Kartoffeln geschält – und der Vater ist froh, dass diese Routinearbeit in der Küche dazu geführt hat, dass er eine Sorge seines Sohnes erfahren hat, die offensichtlich schon länger auf seiner Seele lastete.

 

Drittes Beispiel:

Die Mutter und die beiden Kinder sind in der Küche. Es soll Rotkraut geben. Karla schneidet den großen Rotkohlkopf durch. „Du solltest doch längs schneiden und nicht quer!“, sagt die Mutter. Aber inzwischen hat Karla die wunderbare Struktur des aufgeschnittenen Kohlkopfes entdeckt. Zu dritt bestaunen sie dieses Wunder der Natur. Was Jonas, der die Äpfel fürs Kraut bearbeiten soll, animiert, auch die Äpfel in der „falschen“ Richtung durchzuschneiden. „Wie Mandalas“ sieht das aus, meint Jonas. Als dann das Kraut im Topf ist, sind die Kinder völlig fasziniert, als das bläuliche Kraut wieder rot wird, als die Mutter etwas Essig hinein gibt. Wie kommt das? „Das lasst euch vom eurem Chemielehrer erklären!“ Daraufhin sagt Jonas: „Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid“….und die drei amüsieren sich köstlich an „Blautkreid“ etc. bis sie es alle drei fehlerfrei hinkriegen. Das soll der Vater beim Essen dann mal nachmachen. Dabei gibt es noch einmal viel Gelächter, weil die Kinder es inzwischen viel besser können! Zwei Wochen später will Karla wieder Rotkraut kochen: sie hat sich inzwischen in der Schule den Lackmus-Test erklären lassen und will es noch einmal ausprobieren. Aber dieses Mal ganz alleine!

 

Was an diesen Beispielen klar werden soll:

Die Kinder wollen und sollten beim Arbeiten verschiedene Situationen erleben: alleine oder gemeinsam zu arbeiten, spielerisch oder zeit- und zielorientiert, Neues selbständig erprobend oder fachkundig angeleitet, frei gewählt oder an Notwendigkeiten orientiert, leicht von der Hand gehendes und Herausforderndes und Schwieriges… Vor allem wollen diese Beispiele, die man genauso gut auf andere Familienarbeiten wie Reparaturen, Autoreifen wechseln, Gartenarbeiten usw. ausweiten kann, klar machen, wie Kinder von solcher Arbeit profitieren:

  • Sie machen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, das heißt sie gewinnen an Selbstvertrauen, werden ausgeglichener und psychisch stabiler
  • sie entwickeln Verlässlich- keit und Verantwortungs-gefühl
  • sie lernen zu kooperieren und auf andere zu achten
  • sie werden motorisch und feinmotorisch geschickt (Schneidearbeiten in der Küche, Purzelbäume beim Bettenbeziehen, Zungenbrecher-Übung..)
  • ihre Sinneswahrnehmungen verbessern sich: Gerüche beim Kochen, die Struktur des Rotkrautes…
  • sie lernen Geduld und Ausdauer
  • ihre Kreativität wird angeregt
  • die Welt wird spielerisch erforscht (Blaukraut…)
  • Mediennutzungszeiten reduzieren sich automatisch
  • Alltagskompetenzen der Haushaltsführung werden erworben
  • hochbegabte Kinder können sich an besonders schwierigen Aufgaben im Familienalltag „ausagieren“, Kinder mit Lernschwächen entwickeln selbst bei nicht so guten schulischen Leistungen ein stabiles Selbstwertgefühl
  • in vielen Fällen verbessern sich sogar die schulischen Leistungen

Wenn Kinder all dies ganz selbstverständlich in alltäglichen Situationen entwickeln können, erübrigt sich vermutlich so manche Ergo-, Logo-,…Psychotherapie?

Beate Allmenröder, 2014