20. „Vom a. K. zum k. A.“*

Ein geschontes Prinzchen? (Foto: M. Ihle)

„Ich habe noch eine Idee für Deine Artikel“, berät mich ein Freund, der seinen Namen hier nicht genannt haben will. Der manchmal zum Sarkasmus neigt – und um dessen Rat ich nicht gefragt hatte. „Ich habe schon die Überschrift, nein, ich habe schon den ganzen Text: *Vom armen Kind zum kleinen Arschloch.“ Ich schaue ihn so empört wie fragend an. „Mehr braucht man doch eigentlich gar nicht zu sagen. Kennst Du sie nicht - diese Kinder und ihre Eltern?

Ach, wissen Sie: Mein armes Kind ist ein Trennungskind, es ist schwerst begabt, es ist unterbegabt, es hat eine Allergie, es hat Leserechtschreib-Schwäche, es ist hyperaktiv,


es hat ADHS, Dyskalkulie, es hat… ach was weiß ich…“, lästert er. Um eifrig fortzufahren: „Und dann werden diese Kinder von allem verschont und von vorne bis hinten bedient. So werden sie - das geht so schnell, so schnell guckst du gar nicht - zu ich-bezogenen, lebensunfähigen, wichtigtuerischen Prinzen und Prinzessinnen. Und die Eltern kommen ihr Leben lang nicht mehr aus der Rolle des allzeit dienenden Hofstaates heraus. Irgendwann hassen sie ihre eigenen Kinder. Spätestens ab der Pubertät.“ Ich nicke. Ja, doch, ich kenne sie. Solche Kinder und ihre Eltern. Schließlich arbeite ich in der Schule. „Du bist böse“, antworte ich. „Es gibt Kinder, die es wirklich schwer haben. Außerdem tun die Eltern es in allerbester Absicht.“ „Alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Aber es müsste ihnen rechtzeitig jemand sagen, wo das hinführt.“ „Da bin ich gespannt, was die Gießener Allgemeine sagt, wenn ich diese Lieferung abgebe. Heute mal keine 4000 Zeichen. Die Überschrift muss genügen. Tipp von einem Freund.“ Wir müssen lachen.


Aber mir fällt meine Zeit im Heilerziehungsheim im fränkischen Neuendettelsau (das Dorf heißt wirklich so und ist Standort verschiedener Institutionen der bayrischen Diakonie) wieder ein. Dort habe ich in einer Gruppe behinderter Kinder mein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Vor mehr als 30 Jahren. Die Gruppe wurde geleitet von Schwester Elisabeth – einer wunderbaren Frau. Von ihr habe ich zum ersten Mal den Satz gehört: „Tue nie etwas für ein Kind, was es auch selbst tun kann“. Ich war jung, voller Hilfsbereitschaft – und überzeugt, dass ich diesen „armen Kindern“ helfen könnte. So war ich sehr verblüfft, als mir am ersten Tag die 8-jährige Saskia mit einem strahlend-stolzen Lächeln einen Schokoladenpudding servierte. „Hab‘ fei ich gmacht“ erklärte mir das Down-Syndrom-Kind in breitem Fränkisch. Schwester Elisabeth – fast genauso stolz – wie das Kind, sah meinen skeptischen Blick: „Sie können das essen. Saskia ist Pudding-Queen. Sie kocht Pudding seit sie 4 Jahre alt ist. Mit Leidenschaft.“ Tatsächlich: ein köstlicher Pudding! So habe in diesem Jahr weniger ich den Kindern geholfen, sondern die Kinder – sowie ihre hochprofessionellen Erzieherinnen – haben mir geholfen. Nämlich zu verstehen, dass ein Mensch immer dann am glücklichsten wird, wenn er sein volles Potential entfalten kann. „Das gilt erst recht für diese Kinder!“ erklärte mir Schwester Elisabeth gleich zu Beginn den heilpädagogischen Grundsatz – und schaute mich intensiv an. Sie wollte wissen, ob ich das wirklich begriffen habe. „Potential haben sie meistens viel mehr – und oft auch ganz woanders - als Eltern und manche Lehrer vermuten.“ Saskia hat den Drei-Satz in ihrem ganzen Leben in der Theorie wohl nicht verstanden. Aber das Puddingrezept auf ein, vier oder 16 Personen umzurechnen - das hat sie schon als 8-jährige geschafft. Bis 200 zählen konnte sie nicht fehlerfrei. Aber man konnte sie mit 200 Mark zur Heimleitung schicken und sicher sein, dass sie die abliefert. Und dass sie die Bedeutung dieses Auftrages begreift. Entsprechend stolz und glücklich kam sie nämlich zurück.

In diesem Jahr habe ich mich oft zunächst gewundert, wenn nicht sogar erschrocken, wenn ich gesehen habe, welche hohen Anforderungen die Betreuerinnen an die Kinder gestellt haben. Um dann gegen Ende des Jahres genauso so stolz zu sein wie Schwester Elisabeth, wenn ich gesehen habe, dass „unsere armen“ Kinder so manches früher konnten als „normale“ Kinder.

„Siehst Du, sag ich doch“, meint der Freund, nachdem ich ihm meine Erinnerungen geschildert habe, „wer sein Kind auch in der Pubertät noch lieben will, sollte es von Anfang an nicht schonen. Puddingkochen mit 4 Jahren – das ist Hoch- und Minderbegabten-Förderung in einem.“

Beate Allmenröder