14. Überforderung ist Diebstahl, Unterforderung ist Mord - Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein

„Kinder Torte backen zu lassen, ist eine sehr gute ergotherapeutische Übung! Kann ich noch ein Stück bekommen?“ (Foto: M. Ihle)

Jule und Lukas, die Kinder meiner Freundin Karola, stehen auf der Leiter. Der Rollladen-Kasten ist ihre Baustelle. Mit Schraubenzieher und Zange in der Hand rätseln sie über der Mechanik - drei Tage vor Jules Konfirmation. „Warum holst Du denn keinen Handwerker?“, frage ich Karola. „Die beiden wollten ausprobieren, ob sie den Rollladen nicht selbst wieder in Gang bringen. Heute Morgen konnten wir ihn nicht mehr hochziehen“. „Selbst wenn sie es hinkriegen, muss das doch noch wieder tapeziert und gestrichen werden!?“ Wir verfolgen das Thema nicht weiter, weil noch die Planungen für den Konfirmationstag zu besprechen sind.


Nicht erst als der 13-jährige Lukas am Tag der Konfirmation seiner Schwester die selbst gebackene Schwarzwälder Kirschtorte zum Tisch bringt, sondern schon beim Mittagessen, für das Lasagne und Mousse au chocolat von der Konfirmandin und ihrem jüngeren Bruder am Vortag vorbereitet waren, fällt mir der Rollladen wieder ein. Über dem Fenster ist alles wieder unauffällig.


Nach dem Kaffeetrinken toben Kinder und Jugendliche davon und wir Erwachsenen können uns den „ernsten“ Themen widmen. Wir sind beeindruckt von Karolas Kindern, die Konfirmationsessen vorbereiten, Torten backen und Rollläden reparieren.


Patin Sylvia sagt zu Karola: „Du mutest Deinen Kindern echt viel zu. Aber gut drauf sind sie ja trotzdem.“ „Ja, Du erziehst richtig wertkonservativ, aber Deinen Kindern scheint es nicht zu schaden“, fügt ein Onkel hinzu. Karola schaut irritiert: „Wieso wertkonservativ?“ „Sie müssen so viel arbeiten, Deine Kinder. Das ist heute doch gar nicht mehr üblich.“ Jetzt schaltet sich Jules andere Patin, Ergotherapeutin von Beruf, ins Gespräch: „Vielleicht sind sie ja gut drauf, weil Karola sie so viel arbeiten lässt? Kindern sinnvolle Beschäftigung zu geben, ist doch nicht wertkonservativ! Ich glaube sogar, dass viele Kinder echte Symptome von Langzeitarbeitslosigkeit zeigen.“ Nun schauen wir irritiert. „Was glaubt ihr, wie oft ich Kinder in Behandlung habe, die noch nie einen Apfel geschält, ein Ei aufgeschlagen oder gar eine Torte gebacken haben! Bei Erwachsenen weiß man das längst, dass sie krank werden, wenn sie nichts Sinnvolles zu tun haben! Alle Menschen brauchen Herausforderungen, für die sie Anerkennung erhalten. Aber wie viele Eltern lassen ihre Kinder fast gar nichts mehr selbst machen! Sogar die Schulbrote werden ihnen fertig in den Ranzen gesteckt. Den Kindern fehlt doch die nützliche Erfahrung, nützlich zu sein.“


Mir fällt ein, dass ich als 4-jährige beim „Steine-Lesen“ auf unserem Bauernhof den Traktor mit Wagen lenken musste. Ich konnte natürlich noch nicht wirklich fahren, aber den Traktor im Schritttempo in der Spur halten, während die Erwachsenen nebenher liefen und die Steine auf den Wagen warfen, das konnte ich schon. Beim Wenden sprang mein Vater auf, und dann durfte ich weiter“fahren“. Stundenlang habe ich das geduldig gemacht – und war sooo stolz, weil ich ja wirklich eine ganze Arbeitskraft ersetzt habe.


„Siehst Du“, kommentiert Karola meine Kindheitserinnerung, „und genauso stolz wie Du damals waren meine Kinder vorgestern als sie mir den Handwerker ersetzt hatten und der Rollladen wieder tadellos funktionierte.“ Das ergänzt die Ergotherapeuten-Patin: „Heute spricht man immer von der Unzurechnungsfähigkeit der Pubertierenden, Umbau im Hirn… usw. Früher war die Konfirmation der Beginn des Arbeitslebens. Das hat damals auch funktioniert. Ich sage Euch: es ist nicht der Hirnumbau bei den heutigen Jugendlichen, der sie in der Pubertät so schwierig macht. Nein, es ist die Arbeitslosigkeit. Typische Symptome sind doch Selbstzweifel, Stimmungsschwankungen, Depressionen, Suchterkrankungen, innere Unruhe…Warum sollte das denn bei Kindern anders sein?“ „Krasse These“, sagt Patin Sylvia. „Na ja, vielleicht ist das gar nicht so falsch“, mischt sich nun wieder der Onkel ins Gespräch. Ich habe kürzlich bei einem Pädagogik-Seminar einen interessanten Satz gehört: Überforderung ist Diebstahl, Unterforderung ist Mord. Vielleicht tun wir unseren Kindern ja tatsächlich etwas an, wenn wir zu wenig von ihnen erwarten und verlangen? – Torte backen zu lassen, halte ich jedenfalls für eine sehr gute ergotherapeutische Übung! Kann ich noch ein Stück bekommen?“

Beate Allmenröder