11. Murat wringt Salat - Selbstverantwortung fördern

Nicht nur in der Küche wurde er schnell geschickter... (Foto: M. Ihle)

In der Schule im Berufsvorbereitungsjahr „Hauswirtschaft“ sehe ich, wie Murat – der in Wirklichkeit anders heißt - Salat „wäscht“: er wringt die armen Blätter des grünen Kopfsalats wie der gute Hausmann – oder in der Realität doch eher die gute Hausfrau? - einen Scheuerlappen wringen würde. „Was machst Du da???“ „Wir sollen den Salat waschen!“ Mich veranlasst meine Beobachtung ihn zu fragen: „Kochst Du auch manchmal zu Hause?“ Sein „Nein“ kommt überzeugend, und sein Gesichtsausdruck wäre wohl kaum anders gewesen, hätte man ihm einen unsittlichen Antrag gemacht.


Murat ist ein charmanter, gut aussehender junger Mann von 16 Jahren. Nur leider völlig unzuverlässig: das Kopiergeld bezahlt er nicht, das Koch-Geld vergisst er fast jedes Mal, seine Hausaufgaben macht er eigentlich nie. Sein Berufswunsch ist Koch.


Nach einem schlechten Halbjahreszeugnis bitten die Eltern um ein Gespräch. Es kommen zwei sympathische Menschen, die sehr um die schulische und berufliche Entwicklung ihres Kindes besorgt sind. Sie verstehen gar nicht, warum ihr Sohn sich so unzuverlässig verhält, wo sie sich doch so zuverlässig um ihn kümmern! Warum er so schlechte Noten hat, wo sie doch alles für ihn tun! Ich frage auch sie, ob Murat zu Hause kocht. Auch sie finden die Frage mindestens merkwürdig. Und sonst: andere Hausarbeiten? Nein, nie. (Das ist keine Eigenheit türkischer Einwanderer! Nein, das gibt es genauso in „urdeutschen“ Familien jeden Bildungsgrades!) Ich frage Murats Eltern nach ihren eigenen Kindheitserfahrungen. Beide erzählen, wie viel und wie hart sie damals weit im Osten der Türkei hätten schon von früh an mitarbeiten müssen. Sie erzählen lebhaft und mit einem Leuchten in den Augen. Dann müssen sie beide lächeln: Es dämmert ihnen! Die Situation ist nicht vergleichbar mit der damaligen in kleinbäuerlicher, anatolischer Landwirtschaft. Aber auch im Haushalt gibt es viel Arbeit. Für einen zukünftigen Koch darf Kochen ja wohl nicht als „niedrige Frauenarbeit“ gelten. Das leuchtet allen dreien ein. Ich gebe die „Hausaufgabe“, dass Murat die Gerichte, die er in der Schule lernt, zuhause für die Familie nachkocht. Und rate dringend, ihn mehr und mehr auch bei anderer Familienarbeit zur Verantwortung zu ziehen.


Ich habe Murat noch ein paar Mal an seine Koch-Hausaufgabe erinnert. Nach ein paar Wochen habe ich auch noch einmal mit den Eltern telefoniert, um zu hören, ob die Vereinbarung gilt. Es dauerte nicht lange - dann fand mit Murat eine wunderbare Verwandlung statt: Nicht nur in der Küche wurde er schnell geschickter und verblüffte die Kollegin mit seinen Fertigkeiten. Auch in den anderen Fächern machte er auf einmal die Hausaufgaben und hatte immer alles Geforderte dabei. Wie durch ein Wunder mauserte er sich in nur wenigen Monaten zu einem verantwortungsbewussten, jungen Mann.


Wissenschaftlich untersucht habe ich das nicht, aber ich bin der Überzeugung, dass es einen Zusammenhang zwischen der Übernahme von Verantwortung im Familienalltag und der Selbstverantwortung für Schulangelegenheiten gibt. Nachdem ich selbst erstaunt Murats Entwickung wahrgenommen hatte, habe ich manchmal meine Schüler nach ihrer Mitarbeit zu Hause gefragt. Dabei hat sich meine Theorie im Wesentlichen bestätigt: Wer in der Familie regelmäßig verantwortungsvolle Aufgaben übertragen bekommt, der erledigt meistens auch die Hausaufgaben selbständig und eigenverantwortlich. Sehr häufig korrespondieren damit sogar gute schulische Leistungen. Fast immer hat man es dann mit umgänglichen, sozial-kompetenten, jungen Menschen zu tun. Wobei es natürlich auch zuverlässige, nette Jugendliche mit guten Noten gibt, die zu Hause nicht wesentlich mithelfen.

Am Schuljahresende hat Murat doch noch ein erstaunlich gutes Zeugnis bekommen. Die Eltern bedanken sich. Sie haben wohl etwas Wichtiges verstanden, als sie sagen: “Weil wir unbedingt wollten, dass unser Sohn es einmal besser hat als wir, haben wir es eigentlich schlechter für ihn gemacht. Seit er jeden Tag etwas für die Familie gearbeitet hat, war er viel ausgeglichener, viel umgänglicher und hat viel bessere Noten bekommen.“

Beate Allmenröder