9. Blaukraut wird Rotkraut und Rotkraut wird Bildung

„Wunderwerke der Natur“ können Kinder beim Kochen bestaunen.

(Foto: M. Ihle)

„Ich habe überhaupt keine Lust auf diesen Elternabend morgen“, stöhnt meine Freundin Karola. „Familie als Bildungsort, zweite Folge. Hört sich doch gut an“, finde ich. „Ja, das ist schon interessant“, gibt Karola zu. „Aber weißt Du, wie es ausgehen wird: ich werde wieder deprimiert nach Hause gehen, weil ich als berufstätige Mutter keine Zeit für Zahlenrätsel und Lesespiele habe. Keine Zeit für Kastanienmännchen und Heu-Kränzchen. Keine Zeit für feinmotorische Bastelspiele, die die Entwicklung des Gehirns fördern. Keine Zeit, keine Kraft.“


Sie unterbricht sich: „Aber komm, lass uns mal in die Küche schauen. Ich weiß nicht, ob die Kiddies mit dem Rotkraut schon alleine zu Recht kommen“. In ihrer Küche sind unsere 4 Sprösslinge im Alter von 5 bis 7 Jahren zugange. Es ist gut, dass wir gerade kommen: „Gell, Mama, das Doppelte von ein Viertel ist ein Achtel“, sind sie alle vier überzeugt. „Wir haben schon alles ausgerechnet“, erklärt uns Lukas eifrig. „Wir haben den Kohlkopf gewogen. Der Zeiger war bei fast 2 Kilogramm. Wir haben das Rezept gelesen: es ist aber nur für 1 Kilogramm. Dann brauchen wir also immer das Doppelte, oder? 4 Zwiebeln, 80 g Fett, 4 Äpfel, 8 Esslöffel Essig und 8 Nelken.“ „Na, dann lasst uns mal zusammen überlegen, wie viel Wasser da nun dran muss.“ sagt Karola als souveräne Mutter. Als die Kinder einen Viertel- und einen Achtel-Liter Wasser nebeneinander sehen, wird ihnen ihr Rechenfehler anschaulich.

„Dann müssen wir jetzt erst einmal den Kohlkopf kleinschneiden“, weiß Julchen und schwingt schon das riesige Küchenmesser. Karola nimmt ihr das Messer aus der Hand: „Das Durchschneiden übernehme ich mal lieber“. Der Kohlkopf zerfällt in 2 Teile. Und schon ist Karola umringt von den Kochzwergen: „Das sieht ja richtig schön aus!“ Sie betrachten fasziniert die schöne Struktur des zerschnittenen Gemüses. Jule saust davon, um ihr Religionsschulbuch zu holen: „Guckt mal hier: „Wunderwerke – all diese schönen Formen haben eine Mitte. Jedes Leben muss eine Mitte haben“ liest sie vor. Tatsächlich: da sind genau die Hauptzutaten zum Rotkohl abgebildet: Ein durchgeschnittener Rotkohlkopf, ein Apfel, eine Zwiebel. Es dauert eine Weile, bis sich die 4 durchringen können, diese Wunderwerke der Natur nun weiter zu zerkleinern, so dass sie schließlich in den Topf wandern können. Dazu brauchen sie eine Weile: mit ihren kleine Fingerchen ist es gar nicht so einfach, den großen Kohlkopf in feine Streifen und die Zwiebeln in feine Würfel zu „zersäbeln“. Beim Zusehen muss ich schmunzeln: „Hier entwickelt sich gerade Intelligenz. Feinmotorische Übungen tragen zur Gehirnentwicklung bei.“

Inzwischen schmoren Zwiebeln und Rotkraut im Topf. Lukas liest, als Leseanfänger noch ziemlich stockend, im Kochbuch: „So-fort et-was Es-sig da-rü-ber gie-ßen“. Natürlich will er wissen, warum Essig ins Rotkraut soll – und staunt nicht schlecht, als das Kraut sich sofort von bläulich nach rot verfärbt. Karola und ich haben noch dunkle Erinnerungen an den „Lackmustest“. Während das Rotkraut gart, lassen uns die Kinder „Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid“ sagen, bis wir es so fehlerlos wie sie können. Sie haben es schon beim Gemüseschneiden geübt.

 

Das Rotkraut schmeckt ausgesprochen gut - und es stellt sich raus, dass die Kinder die doppelte Menge von der doppelten Menge Äpfel daran gegeben haben. Eine Zufallsentdeckung: Das Geheimnis eines guten Rotkrautes sind viele, viele Äpfel.

Die zweite Zufallsentdeckung für uns Mütter an diesem Tag: auch beim Rotkrautkochen kann die Familie zum Bildungsort werden. Ich habe nämlich beobachtet, dass in Karolas Küche heute eine Stunde in Mathe, in Lesen, in Religion, in Chemie… stattgefunden hat. War nicht der Brautkleid-Zungenbrecher sogar eine logopädische Übung?


Karola sieht dem Elternabend jetzt ganz vergnügt entgegen: „Unsere Erkenntnisse von heute werde ich morgen Abend mal zur Diskussion stellen. “

Beate Allmenröder